(c) Luis Leonard Grumser
Der Schrank, hoch thront er inmitten deiner spartanisch eingerichteten Einheitswohnung. Aus dunklem, altem Eichenholz geschaffen, steht er schwer und mächtig auf seinen vier Füßen. Wenn du ehrlich bist, kannst du dich gar nicht daran erinnern, wie du ihn überhaupt durch die winzige Öffnung deiner urbanen Behausung bekommen hast. Ja, er war wohl schon immer hier; so selbstsicher, wie er dein Wohnzimmer als sein Reich beansprucht hat, kann es gar nicht anders sein. Zwischen den Billy Regalen und anderen Ikea Fastfood-Möbeln sieht er aus, wie ein Kaiser zwischen Untertanen. Er weist die seelenlosen, aufmüpfigen schwedischen Invasoren in die Schranken, sie sind lediglich Konsumgüter, er ist Überbringer einer anderen Welt. Einer Welt, in der die Dinge noch aus Schweiß und Herzensblut geschaffen waren, aus echtem Holz, nicht Leim und Karton; eine Welt, in der die Dinge noch von echten Menschen in Handarbeit geschreinert wurden, und nicht von leblosen Robotern zusammengesetzt.
Dieser Schrank ist alt, so alt wie die Zeit. Er war einer der drei Monolithen, er war das Fundament der Akropolis, er war der erste Stein in der Cheops-Pyramide. Er wird nicht in Häuser gestellt, Häuser werden um ihn herumgebaut! Dieser Schrank hat Generationen kommen und gehen sehen, er hat Kinder aufwachsen und Alte sterben sehen. Dieser Schrank hat die erste Schuluniform deines Großvaters bewahrt, und den Mantel, den er mit ins Grab nahm. Er hat die Bücher und Schriften, die Fotoalben, Memoiren und die Tagebücher unzähliger Menschen beherbergt, und er hat sie alle studiert - sich einverleibt. Was einmal in diesem Schrank steht, kann wieder entnommen werden, doch die Präsenz davon bleibt für immer als Erinnerung in den Holzbalken erhalten.
Wenn du ihn so betrachtest, fragst du dich, woher du eigentlich das Recht hast einen solchen Eckpfeiler der Menschheitsgeschichte zu besitzen, bist denn überhaupt würdig? Dieser Berg aus verholzten Schnörkeln, mächtigen Querbalken und kunstvollen Schnitzereien wurde einst von einem Menschen geschaffen! Vor gefühlten tausend Jahren hat irgendein preußischer Tischlermeister sein gesamtes handwerkliches Können für einen letzten Schlag der Kunst gebündelt, und diesen Koloss von Schrank erschaffen - für die Ewigkeit! Die Existenz dieses Möbelstückes hat wahrscheinlich mehr Bedeutung und Sinn, als du jemals haben wirst - es lässt dich ehrfürchtig werden! Doch du kannst ihm vertrauen, deinem Schrank, denn das ist er jetzt: Dein. Er ist nicht wählerisch oder besonders anspruchsvoll bei der Wahl seines Besitzers. Du darfst ihm für die nächsten 50 bis 70 Jahre dienen, darfst ebenfalls deine Tagebücher, deine Memoiren und alle anderen Aspekte deines Lebens in das Kollektiv derer seiner vorherigen Besitzer einbringen. Es wird ihm gut nützen; auch du hast noch Platz in seinem Gedächtnis - seine Kapazität ist unerschöpflich! Du kannst getrost dein Leben in eines seiner vielen Fächer abstellen, kannst deine intimsten Geheimnisse in eine seiner Schubladen packen, keine Sorge, bei ihm sind sie sicher! Neben all den Geheimnissen, die er in seinem langen Leben belauscht hat, wirken deine reichlich unspektakulär.
Schau dir die vielen Kratzer, Einkerbungen und Narben an seinem hölzernen Körper an - alles Beweise dafür, dass er gelebt hat! Diese Schramme stammt von der Umsiedlung ins Schloss Neuschwanstein, dieser Riss vom großen Erdbeben 1756, hier ist eine Schnittwunde von einem Säbel, und dort das Einschlussloch einer Mauser; auf der Rückseite hat irgendein Ideologe ein Hakenkreuz eingeritzt, und im unteren linken Eck hat die Moderne ihre Markierung hinterlassen: ein ausgesägtes Loch - für den Kabelanschluss!
Dieser Schrank hat wahrscheinlich mehr gesehen, als du in deinem ganzen Leben sehen wirst. Jetzt ist er ja dein Freund und kann dir davon erzählen; du behandelst ihn besser gut, denn nach dir wird er seinem nächsten Besitzer auch von dir erzählen! Du hast sogar den Schlüssel zum Schrank; feierlich hat er ihn dir anvertraut, und wie ein Heiligtum hast du ihn stolz entgegengenommen. Mit diesem Bündnis hat dir der Schrank geschworen deinen Besitz mit allem in seiner Macht stehendem und all seiner Kraft zu verteidigen. Und es soll dir versichert sein, diese schweren Eichentore haben schon so manchen Eindringling aufgehalten.
Der Schrank hat einen Spiegel, diesen hält er dir jeden Tag vor; doch der Schrank verurteilt dich nicht, er bewertet oder verbessert dich nicht, er gibt dir nur die Chance dir noch einmal das Bild anzuschauen, als welches du in seine Geschichte eingehen wirst. Hörst du das Quietschen der Scharniere beim Öffnen? Das ist seine Stimme. Es ist ein tiefes, weises Knarren; das Aufschwingen der großen Türen dauert die Ewigkeit, und währenddessen rezitiert er sie. Riechst du das Holz und das Harz der Eiche? Das ist sein Atem, ein Atem, der direkt aus der Natur stammt. Er haucht einen ganzen Wald in dein Wohnzimmer; er erzählt dir von den Tagen, als er noch der stolze König der Wiese war, eine prachtvolle Eiche. Von seiner Zeit als junger Setzling bis zum stattlichen Baum, als die Holzfäller kamen, er in die Sägemühle geriet, und schließlich in die Tischlerstube des Meisters. Siehst du die vielen natürlichen Muster, Texturen und Astlöcher in seinem Holz? Das ist seine Seele; sie ist genauso mannigfaltig, ursprünglich und uralt. Was bleibt nun noch anderes, als ruhig und behütet einzuschlafen, immer in dem Wissen, dass der Titan unter den Möbeln in der Dunkelheit deines Wohnzimmers steht und die Inhalte deines Lebens bewacht.
(c) Julia Guibert
Komm schon, ein bisschen nach links! Nein, nein, nicht so viel! Beweg dich, Mann, sie muss gleich kommen! Oh, wie meine Beine schmerzen… „War es die Nachtigall oder die Lerche?“ In meinem Fall die Lerche, ganz eindeutig. Um fünf Uhr haben meine Füße das wohlig-warme Daunenreich verlassen und den kalten Parkettboden unter den Hühneraugen gespürt. Fünf! Andere träumen zu dieser Zeit noch davon, wie sie die Welt verändern können, und ich… Ich stehe hier mit meinem Fähnchen, bereit und willig, meine Anerkennung und Wertschätzung lauthals kundzutun. Politisches Engagement ist in der heutigen Zeit unabdingbar, so ist es! Ich selbst bin da ganz vorne mit dabei… Erste Reihe, die Front der Fronten. Nun ja… bis auf heute eben. Wäre da nicht dieser blöde, breite Schrank!
Schultern wie ein Berggorilla hat der. Stecken prall in einer verwaschenen Jeansjacke und schwenken mal nach links, mal nach rechts aus. Nicht einmal ruhig stehen bleiben kann der! Wie bei der Taufe meiner Nichte damals. Da war es kein Schrank, sondern Tante Augustine, die mir mit ihrem breiten Rücken und der noch breiter aufgeföhnten Lockenmähne die Sicht versperrte. Eine wahre „Schränkin“. Geht das? Nein, du Sprachgenie. Frauen werden im Allgemeinen nicht als Schrank bezeichnet. Eher als fette Wachtel oder Sumpfkuh. Sumpfkuh – haha! Das passt auch zu ihrem äußerst charmanten Wesen. Alte Miesmuschel!
Mich bezeichnet man gewöhnlich als „untersetzt“. Hässliches Wort. Hässliches Wort für einen hässlichen Menschen. Menschlich gesehen die reine Frechheit, dieses Wort. Doch genug, Mensch, reiß dich zusammen, sie kommt gleich!
Den besonders Eifrigen in der ersten Reihe schaut sie immer direkt in die Augen! Da muss ich hin! Da! Eine kleine Lücke zwischen Schrank und kleinem Fräulein! Nein. Wieder nur Jeans und Leder und ein Stückchen ekelerregend beige Hauswand von gegenüber. Er – der Riesenschrank vor mir – ist alles andere als untersetzt. Bestimmt fliegen alle fetten Wachteln dieser Welt auf ihn und seinen breiten Brustkorb, der schmeichelnd wie alte Eichenholzschranktüren dazu einlädt, sämtliche Geheimnisse des modrig-magischen Innenraums zu erkunden. Jetzt sehe ich sein Profil – markant und wohlgeformt. Wen juckt’s? Wuchtig und gigantisch steht er da. Inakzeptabel! Unter keinen Umständen gutzuheißen, diese Unverschämtheit, sich mit einer solchen Schrankbreite in die erste Reihe zu platzieren, und dann auch noch mit einem markanten Profil! Du denkst wohl, du bist aus Teakholz, ganz was Nobles! Wusstest du, dass Bambus das neue Teakholz ist, hä? Wusstest du das? Passt dieses fundamentale Detailwissen in deine Brusttaschen-Schubladen, hä? Jetzt pass mal auf, du! Wenn ich an deinem prominenten Nasenknauf drehe wie am Schlüssel des alten Nähschränkchens meiner Mutter, klappt dir gleich die Unterlippe herunter wie das Rollo des selbigen Schränkchens – ritsch-ratsch – und entblößt ein ähnlich schwarzes Loch, allerdings mit Kronen anstatt Goldknöpfen, das ist sicher! Hell klimpernd wie Perlenknöpfchen werden sie eine nach der anderen auf dem Asphalt tanzen, wenn ich sie dir mit einem gekonnten Haken aus dem Gorillagesicht schlage! Drei – zwei – eineinhalb – eineinviertel…
Hat sich da etwas getan, dort hinten? Was rufen sie? Es ist soweit! Sie kommt! – Nein. Falscher Alarm. Die Menge ist zu ruhig.
Ich spüre, wie auch ich von dieser alles umfassenden Ruhe ergriffen werde. Wenn ich so nachdenke, es überdenke, der vielen schönen Knöpfe meiner Mutter gedenke, wird es mir direkt ganz warm ums Herz. Doch halt! Ich habe eine kaltherzige Mission! Hart bin ich. Stahlhart und willig. Wild entschlossen, nein, willig entschlossen, diese Schrankmauer vor meiner Nase zu durchbrechen!
Die Menge zuckt, die Köpfe drehen sich ruckartig nach links, irgendjemand lacht. Da! Nein. Doch! Noch nicht… Bald! Tu doch was! Ich werde ihn umstoßen, diesen Schrank. Unsanft zur Seite schieben, mich an ihm vorbei an die Absperrung drängen, dann wird sie in meine Augen sehen – „schau mir in die Augen, Kleines“ – nicht in seine! Jetzt, trau dich, du Schlappschwanz, das ist dein Moment! Sei ein Mann!
Meine Hände erheben sich wie von einer fremden Macht mobilisiert. „Möge die Macht mit dir sein“, Junge. Das ist sie, ich spüre sie! Da, nimm das, du Schrank! Mit voller Wucht in den Berggorillarücken!
Mein Herz schlägt wie damals, als ich den Elfmeter schießen sollte. Verdammte Katastrophe war das. Katastrophal auch, wie er sich nun zu mir umdreht, der Jeansschrank. Direkt hunnenhaft sieht er aus mit seiner wallenden, blonden Lockenmähne und den stechenden Polaraugen, aus denen mich unverhohlene Wut anblitzt. Einschüchternd. Furchterregend. Niederschmetternd. Jetzt werde ich auch noch rot.
Schnell, lass dir was einfallen, Mann! Hilflos zucke ich die Schultern und deute auf die Menge hinter mir. Eine Stöckelschuh-Gazelle zischt ein missbilligendes „Z-z-z“ und ein Riesen-Kopfhörer-Knirps wirft mir einen schiefen Blick aus schläfrigen Augen zu, die bestimmt um fünf Uhr morgens noch dem flimmernden Computerbildschirm mit ballernden Soldatenschränken ausgesetzt waren. Immer sind es Schränke! Schränke, Schränke, nichts als Schränke! Gorillaschränke, Soldatenschränke, Lederschränke, Jeansstoffschränke, Hunnenschränke, Miesmuschelschränke, Kopfhörer-Knirps-Schränke, Goldkronenschränke.
Dieser Schrank, mein Schrank, dreht sich grollend wieder nach vorne um und – geht ans Handy? Das ist doch… Wie war das? Auch um fünf Uhr morgens aufgestanden? Ha! Und jetzt soll er was tun? Heimkommen? Ein Notfall? Er dreht sich um. Ein Wink, ich solle zur Seite treten. Jetzt schiebt er seine Gorillaschultern an mir vorbei und gibt den Platz vor mir frei. Frei?!
Schnell, schnell! Erste Reihe, Front der Fronten! Flink, flink! Geschafft! Ich fass es nicht, ich bin in der ersten Reihe! Geschafft! Sie wird in meine Augen sehen, in meine!
Meine Schultern sind es nun, die dem Riesen-Kopfhörer-Knirps und der Stöckelschuh-Gazelle die Sicht versperren! Der Ein-Meter-Fünfzig-Gazelle, trotz Stöckelschuhen. Dem Knirps mit den müden Augen. Müde vom frühen Aufstehen. Bin ich jetzt der Schrank? Nein… Ich doch nicht! Von einem untersetzten Schrank hat doch noch keiner etwas gehört. Außerdem muss sie gleich kommen. Jede Minute… Nein, ich bin kein Schrank…
(c) Sarina Lögler
Seit Wochen schlich Marleen um diesen Hülsta-Schrank herum. Genauso lange, wie sie von ihrer neuen Wohnung wusste. Diesen Schrank musste sie noch ausräumen. Denn er sollte in ihr neues Schlafzimmer kommen. Mit seinem hellem Eichenholz, den Flügeltüren und den kugelförmigen Knäufen passte er genau zu ihrem neuen Bett. Doch sie konnte ihn nicht leer machen.
Schon seit Stunden starrte sie auf die kugelförmigen Knäufe und wagte es nicht, ihn zu öffnen. Doch sie musste es endlich tun. Morgen kamen die Möbelpacker und wollten auch ihn mitnehmen. Das Ausräumen dieses Schrankes würde sie nie den Möbelpacker überlassen. Es war allein ihre Aufgabe, das zu tun. Noch immer starrte sie unverrichteter Dinge auf die beiden Flügeltüren. „Himmel hilf“, dachte sie.
Plötzlich klingelte ihr Handy. Ihre Freundin Erika war dran. „Marleen, hast du mit dem Schrank angefangen?“ fragte sie unvermittelt. „Nein, noch nicht!“
„Marleen, soll ich vorbeikommen und Dir helfen?“ „Nein, das muss ich alleine tun!“
„Aber ich kann Dir doch helfen. Ich würde auch einen Rotkäppchen Sekt mitbringen, dass es für Dich leichter
wird.“
„Ich kann nicht. Du weißt, was ich momentan nehme.“
„Den gibt es auch alkoholfrei.“
„Erika, sei mir bitte nicht böse, aber ich möchte es alleine machen. Wir sehen uns morgen beim Umzug.“
„Du meldest Dich, wenn du etwas brauchst?“
„Erika, tschüss!“
Voller Wut legte Marleen auf und lehnte sich mit dem Rücken an den Schrank. „Verdammt, niemand kann verstehen, dass ich keine Hilfe will!“, dachte sie. Auch ihre Mutter musste sie bei deren letztem Besuch davon abhalten, den Schrank auszuräumen.
Nach der Wut kam die Traurigkeit. Ihre Augen füllten sich mit bitteren Tränen. Von der Trauer erschlagen rutschte sie mit ihrem Rücken die Flügeltüren herunter. Wie ein kleines Kind kauerte Marlene auf dem Teppichboden und umschlang ihre Beine. „Warum hast Du mich allein gelassen?“, fragte sie die Stille um sich herum. „Wo bist Du bloß?“, fragte sie weiter.
Plötzlich ergriff sie die Wut der Verzweiflung. Marleen stand auf und ging zum Plattenspieler. Sie öffnete den Deckel. Vorsichtig legte sie die Nadel auf die Schallplatte „Wiederzusammen“ von Marianne Rosenberg. Während die ersten Discotakte des Lied „Marleen“ ihren Weg in den Raum fanden, öffnete sie mit Schwung beide Flügeltüren des Schranks. Sofort kam ihr der Geruch in die Nase. Marleen hatte ihn ersehnt und zugleich gefürchtet. Es roch nach frischer Erde, frisch geschlagenem Holz und Axe Aftershave. Aufgehängt auf Bügeln sah sie Arbeitshosen, buntkarierte Holzfällerhemden und ganz hinten rechts den Hochzeitsanzug. Auf dem Schrankboden lagen seine ungewaschenen Arbeitshosen. Er war der Naturbursche gewesen, den sie sich immer gewünscht hatte.
„Marleen, eine von uns beiden muss jetzt gehen“, sang Marianne Rosenberg.
„Aber das hättest nicht Du sein müssen!“, schrie Marleen vor Schmerz auf. Sie riss das blaukarierte Lieblingshemd ihres Mannes vom Bügel. Ganz fest drückte sie es sich ins Gesicht. Es erschien das Bild eines großgewachsenen Mannes vor ihren inneren Augen – kurze schwarze Haare, die in alle Richtungen standen Große tiefblaue Augen und ein schüchternes Lächeln auf den Lippen. So hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen. Auf einer 70er-Motto- Party hatte er sie ausgerecht zu „Marleen“ von Marianne Rosenberg zum Tanzen aufgefordert. Als sie ihm beim Tanzen erzählte, dass sie wegen des Lieds Marleen heiße, hatte er nur gelacht und gemeint: „Ich heiße Theo, nach dem Lied von Vicky Leandros“ Theo, wir fahren nach Lodz“ Danach hatten sie beide gelacht.
Seitdem waren Theo und sie unzertrennlich. Am liebsten würde Marleen das Bild von Theo und ihr, wie sie an Erikas Hochzeit zu „Marleen“ tanzten, als letzte Erinnerung von ihm behalten. Und nicht dieses Bild, das sie jede Nacht quälte und im Schlaf aufschrecken ließ. Theo, wie er blutüberströmt, leichenblass auf dem Beifahrersitz hing. Jemand hatte einen großen Stein von der Autobahnbrücke geworfen und ihren Mann tödlich getroffen. Sie und Theo waren auf dem Heimweg von Erikas Hochzeit gewesen. Weil Theo etwas getrunken hatte, saß sie am Steuer. „Marleen, einer von uns beiden muss jetzt gehen…“ sang Marianne Rosenberg wieder.
„Ich wäre von uns gegangen, wenn ich Alkohol getrunken hätte und Du gefahren wärst,“ dachte Marleen. „Aber wir wollten doch schwanger werden und so trankst du den Sekt und den Wein, der für mich bestimmt war.“
Marleen wusste nicht mehr vorhin mit ihrer Wut, dem Schmerz und ihrer Verzweiflung. Schwer getroffen sackte sie in sich zusammen. Theos Hemd hielt sie noch immer in ihren Händen. Still rannen ihr die Tränen die Wangen hinunter. Sie linderten ihren Schmerz nicht. Innerlich erstarrt, lauschte sie weiter der Schallplatte:
Marleen
eine von uns beiden muß nun geh'n
Marleen
drum bitt' ich Dich
geh du
Marleen.
Marleen
du musst geh'n
Marleen
Die letzten Takte des Lieds waren verklungen. Plötzlich glaubte Marleen die raue sinnliche Stimme von Theo zu hören: „Marleen, einer von uns beiden muss nun geh'n. Marleen, drum bitt' ich Dich, geh du. Marleen. Marleen, du musst geh'n, Marleen“.
Es dauerte eine Weile, bis Marleen sich selbst glaubte, dass sie Theos Stimme gehört hatte. Danach brauchte es noch einen weiteren Augenblick, bis sie Theo auch wirklich verstand.
Theo hatte Recht, dachte sie schließlich. Sie musste gehen, in die neue Wohnung und auch in ein neues Leben. Aber sie würde ihn mitnehmen.
Etwas benommen, aber entschlossen stand sie vom Fußboden auf. Sie legte sein Hemd zur Seite und zog seinen Reisekoffer unter dem Bett hervor. Sie legte ihn geöffnet auf den Fußboden. Dort würde sie seine Lieblingssachen einpacken und danach mit in die neue Wohnung nehmen. Im neuen Schlafzimmer würde sie den Koffer wieder öffnen und dabei ihr Lied hören. Theo würde dann bei ihr sein.